Vor ein paar Tagen hatten wir ein Interview mit einer freien Redakteurin, die für die Sächsische Zeitung einen Artikel über Attachment Parenting (AP) schreiben möchte. Seit diesem Interview gehen mir viele Gedanken durch den Kopf, die zum Teil auch auf die Fragen der Redakteurin zurückzuführen sind. Warum muss sich beispielsweise Attachment Parenting so oft rechtfertigen, wenn es doch eigentlich den “Normalzustand” darstellt? Warum werden Eltern angefeindet, die bindungs- und bedürfnisorientiert mit Ihren Kindern umgehen, wenn das doch artgerecht ist. Ich habe das Gefühl, dass es viele Vorurteile und Missverständnisse gegenüber einer bindungsorientierten Haltung gegenüber gibt. Welche Vorurteile begegnen uns im Alltag und in den Medien?
1. Bei AP können die Kinder machen, was sie wollen
Um es vorweg zu nehmen: Nein, bei AP können Kinder nicht tun und lassen, was sie wollen. Das würde eine Überforderung der Kinder bedeuten bzw. einer Vernachlässigung der Kinder gleichkommen. Vielmehr geht es Eltern, die einen bindungsorientierten Ansatz verfolgen darum, den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, ihre Bedürfnisse und Wünsche ernst zu nehmen und dann zu schauen, wie diese in das Zusammenleben der sozialen Gemeinschaft zu integrieren sind. Dabei geht es ums Aushandeln, Diskutieren und Kompromisse schließen. Denn auch die Grenzen und Bedürfnisse der Eltern oder anderer Familienmitglieder werden berücksichtigt. Die Verantwortung dafür liegt bei den Erwachsenen.
Wenn ich nicht möchte, dass mein Kind noch ein Stück Schokolade isst, sage ich “nein” und habe gleichzeitig Verständnis dafür, dass mein Kind diese Entscheidung doof findet und wütend wird. Dann begleite ich es durch diesen Wutanfall.
Ein weiterer Unterschied zwischen AP und konventioneller Erziehung ist, dass bei AP die Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Vordergrund steht, auch in Konfliktsituationen. Wenn wir als Erwachsene mit unseren Kindern in Beziehung bleiben, fällt es ihnen leichter, unsere Wünsche anzuerkennen und uns zu folgen. Wenn ihnen das mal nicht möglich ist, reagieren wir Eltern nicht mit Strafen oder Konsequenzen darauf, sondern schauen auf die Ursachen.
2. AP-Eltern sind zu faul für Erziehung
Attachment Parenting zu leben, ist in unserer industriellen und auf Leistung und Funktionieren ausgerichteten Gesellschaft nicht einfach. Bei AP gibt es keinen Masterplan, vielmehr werden alle Entscheidungen je nach Entwicklungsstand des Kindes, Gemütszustand und Situation neu verhandelt. Ich schaue auf das Kind und seine Bedürfnisse, bevor ich eine Entscheidung treffe. Generell ziehe ich einem Siebenjährigen nicht mehr die Schuhe an, aber wenn er müde und kaputt ist, weil der Tag sehr anstrengend war oder wir nach einer Feier zu spät nach Hause kommen, helfe ich ihm bereitwillig. In dieser Situation ist er einfach zu geschafft, um noch zu kooperieren. Dafür habe ich Verständnis und übernehme die Verantwortung. In meinen Augen ist es eine zutiefst menschliche Geste, einen lieben Menschen zu unterstützen, wenn er Hilfe benötigt.
3. Mit AP wachsen Egoisten und Tyrannen heran
Das Ziel eines bindungs- und bedürfnisorientierten Miteinanders zwischen Eltern und Kindern ist, dass unsere Kinder sozial kompetente, selbstbestimmte, verantwortungsbewusste und empathische Erwachsene werden. Das funktioniert u.a. über eine sichere Bindung, über geeignete Vorbilder und indem ich als Erwachsener das Kind und seine Grenzen sehe und respektiere.
Wenn mein Kind sich als bedingungslos geliebt und angenommen erfährt, hat es keinen Grund, seine Umwelt zu tyrannisieren oder sich egoistisch zu verhalten.
Natürlich bekommen Kinder Wutanfälle oder steigen aus der Kooperation mit Erwachsenen aus. Das geschieht dann beispielsweise aufgrund einer Überforderung, keinesfalls, um uns zu ärgern. Dieser wohlwollende Blick auf das Kind ist eine wichtige Grundvoraussetzung des Attachment Parenting.
4. AP-Eltern brennen aus
Ja, Attachment Parenting kann mitunter sehr anstrengend sein und viele AP-Eltern haben einen sehr hohen Anspruch an sich und ihren Umgang mit ihren Kindern. Wichtig ist, dass Eltern auch ihre eigenen Grenzen und Ressourcen im Blick behalten und sich immer wieder Auszeiten, Erholungsphasen und Paarzeit gönnen. Das kann eine Tasse Tee am Nachmittag oder ein Spaziergang nach dem Einschlafen der Kinder sein. Kleine Oasen der Entspannung helfen uns ungemein bei einem entspannten Umgang mit Kindern, bauen Stress ab und geben uns Gelegenheit, in uns zu horchen. Denn nur wenn unsere eigenen Schalen voll sind, können wir die Schalen unserer Kinder füllen. Das gilt übrigens für alle Eltern! Dazu müssen wir achtsam mit uns selbst sein, gelegentlich aus dem Funktionieren-Modus aussteigen und uns Hilfe/Unterstützung holen. Schließlich sind wir Menschen eine kooperativ aufziehende Art. Wir sollten in sogenannten Clans oder Großfamilien zusammenleben, um uns gegenseitig zu unterstützen, sowohl bei der liebevollen betreuung der Kinder als auch der älteren Menschen.
Die notwendige Gelassenheit im Umgang mit Kindern müssen sich übrigens nicht nur AP-Eltern mühsam erarbeiten. “Gut” ist das neue “Perfekt”. Manchmal ist es entspannter, das Abendessen beim Lieferdienst zu bestellen und die gewonnene Kochzeit als Familienzeit zu nutzen.
5. AP-Kinder sind verwöhnt und unselbstständig
Generell hat jeder Mensch zwei Triebfedern in sich: Autonomie und Verbundenheit. So auch unsere Kinder. Kinder möchten von Natur aus selbständig werden. Gerade in der Autonomiephase und der Pubertät ist diese Bestrebungen sehr stark spürbar. Autonomie setzt jedoch eine sichere Bindung voraus. Verweigern wir Kindern die Nähe und die Sicherheit und versuchen, sie vom Rockzipfel zu schütteln, werden sie sich nur umso mehr festklammern. Erst wenn das Bedürfnis nach Sicherheit und Verbundenheit gestillt ist, kann das Kind explorativ tätig werden. Das sind die berühmten Wurzeln und Flügel, die bereits Goethe benannte.
6. AP-Eltern sind Helikopter-Eltern
Nur weil sie lange stillen, mit ihren Kindern in einem Bett schlafen und ihre Babys viel tragen, sind sie noch lange keine Helikopter-Eltern. Im Gegenteil: AP-Eltern geben ihren Kindern viel Freiraum, um eigene Erfahrungen zu machen. Denn die ist ein essentieller Baustein von Lernen und Entwicklung. Kinder sollen experimentieren, ihre Umwelt erforschen und ihren Wissensdurst stillen - möglichst alleine und selbstbestimmt. Eltern fungieren dabei lediglich als Begleiter und greifen nur bei Gefahr oder auf Bitten des Kindes ein. Beim Attachment Parenting steht folglich das Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten im Fokus, nicht die Kontrolle.
7. AP-Kinder sind unhöflich
Wenn Erwachsene es als unhöflich empfinden, wenn ihnen ein dreijähriges Kind zur Begrüßung nicht die Hand gibt oder nicht jeden Satz mit Bitte und Danke ausformuliert, dann stimme ich diesem Vorurteil zu. Kinder lernen unsere gesellschaftlichen Konventionen von ihren Bezugspersonen. Wenn ich es ihnen vorlebe, werden sie mein Verhalten über kurz oder lang übernehmen - allerdings in ihrem Tempo. Zusätzlich kann ich meinem Kind erklären, warum wir viel Wert auf bestimmte Gesten und Normen legen. Zumal das Händeschütteln und eine Umarmung oder sogar ein Kuss immer auch ein Eingriff in die Privatsphäre ist. Nicht jedes Kind mag die beste Freundin der Mama zur Begründung umarmen oder sich einen Kuss auf die Wange drücken lassen. Und wenn die Oma vier Wochen nicht zu Besuch war, ist es verständlich, wenn das Kind einige Minuten braucht, um warm zu werden. Je mehr Druck hier ausgeübt wird, umso unwillig werden die Gesten und das Kind zieht sich evtl. noch mehr zurück. Was kostet es mich hier als Erwachsener, geduldig, nachsichtig und gelassen zu bleiben?
Und auch das mit dem Teilen will gelernt sein. Die Voraussetzung dafür, dass Kinder teilen, ist, dass sie sich ihres Besitzes sicher sind. Nur wer weiß, dass ihm Sachen uneingeschränkt gehören kann daraus Großzügigkeit und Freigebigkeit entwickeln. Und auch das braucht Zeit und Geduld. Erzwungenes und aufgedrücktes Teilen bewirkt meist das Gegenteil: Die Kinder haben Angst um ihre Besitztümer und geben sie nicht heraus.
8. AP ist eine Öko-Bewegung
Ja und nein! Menschen, die versuchen, nachhaltig und bewusst zu leben, wollen oft auch achtsam mit ihren Kindern umgehen. Darüber hinaus hat AP mittlerweile in nahezu allen Bevölkerungsschichten begeisterte Anhänger gefunden.
Vermutlich könnte ich diese Liste noch um einige Punkte erweitern. Mir ist wichtig zu zeigen, dass Attachment Parenting einen Blumenstrauß an Handlungsmöglichkeiten bereitstellt, aus dem jede Familie die Elemente auswählen kann, die für sie passen. Daher gibt es unendlich viele Facetten des AP.
Katja Schill